Nordhausen zusammen: Das letzte Aufbegehren?

Am Samstag vor der Stichwahl kamen hunderte Nordhäuser:innen für das Fest des Aktionsbündnis „Nordhausen zusammen“ auf den Rathausplatz. Arvid war für „Die schweigende Mehrheit“ mit dabei und berichtet über seine Begegnungen an diesem Tag.

Es ist wieder Samstag, früher Nachmittag. Die Sonne versteckt sich hinter der großen Wolke am sonst blauen Himmel. In der Post ist jetzt Dienstschluss. Eine Postbeamtin tritt verträumt auf die Straße, sie hört die Musik vom Kornmarkt. Auf der anderen Straßenseite eilt ein junger Mann im Feinesahnefischfilet-Hoodie noch schnell zum Döner.

Die Polizei hatte zu Beginn der Veranstaltung nicht viel zu tun. Das hat sich auch nicht geändert. Eine weitere Demo gab es heute nicht.

Auf dem Kornmarkt vor dem Rathaus angekommen, staune ich, wie viele bunte Stände und Menschen da bereits stehen. Schrankenlos, ein Verein der sich um Geflüchtete kümmert, neben einem Stand linker Studierender, die wiederum neben dem Kinderkirchenladen stehen. Der Geruch von frischen Waffeln liegt in der Luft, Seifenblasen werden vom Wind verweht, auf der Bühne wird »Talking about a revolution« gespielt ‒ merkwürdig, denn eigentlich wollen hier alle doch nur eins: Eine drohende Revolution verhindern.

Wenn man an diesem Tag mit Vertreter:innen der Zivilgesellschaft spricht, trifft man auf große Ratlosigkeit angesichts der Wirren der lokalen Politik. Warum arbeiten die demokratischen Parteien nicht zusammen? Und warum hat niemand einen Plan, sollte es zur Wahl von Jörg Prophet kommen? Warum hat niemand einen Plan, sollte es zur Wahl von Kai Buchmann kommen? Wird ein möglicher Oberbürgermeister Prophet die Gelder für ihre Vereine und Projekte streichen, jetzt da sie sich so offen gegen ihn positioniert haben? Und so mischt sich großes Unbehagen in die Gesichter ‒ trotz der zahlreichen Menschen, den vielen Mitgliedern ihrer Vereine und Gemeinden, die sich heute hierher aufgemacht haben.

Der Riss geht durch alle Alters- und Bildungsschichten

Auch viele Nordhäuser Urgesteine sind da: Zum Beispiel Ärztinnen und Lehrer, die gefühlt schon seit Generationen in der Stadt sind. Die, die heute auf dem Fest des Aktionsbündnis „Nordhausen zusammen“ sind, schauen erschrocken auf die vielen alten Bekanntschaften und Nachbar:innen, die sie seit vielen Jahren kennen und die sich nun als AfD-Wählende herausstellen. Der Riss geht durch alle Alters- und Bildungsschichten. War offen rechtes Gedankengut schon immer da und wurde nur durch die DDR-Zeit verdeckt und unterdrückt, wie es ein älterer Herr beschreibt? Oder ist es die allgemeine Wechselstimmung im Land, die jetzt in Nordhausen Dampf ablässt? Es sind Antworten, mit denen sich die Menschen das Ergebnis des ersten Wahlgangs zu erklären versuchen. Eins aber ist sicher, egal wer gewählt werden wird: Der Stadt stehen unruhige Zeiten bevor.

Auf der Bühne gab es ein buntes Programm mit Reden und viel Musik.

Ich brauche eine Pause und gehe zum Kuchenstand. Dort gibt es Kuchen über Kuchen über Kuchen und ich fühle mich zuhause ‒ wie auf einem guten, alten Gemeindefest. Bienenstich, Schokokuchen als Senkkuchen oder mit Zuckerglasur. Bananenbrot, Marmorkuchen, Käsekuchen, Apfelkuchen als Blechkuchen oder aus der Springform. Quarktorte, Streuselkuchen, Rhabarberkuchen oder russischer Zupfkuchen. Die Auswahl ist erschlagend. Nur der Kaffee war alle. Man habe nicht mit so vielen Menschen gerechnet, doch Nachschub käme, so in 10 Minuten. Hinter den Tischen stehen Freiwillige, darunter auch junge Menschen, die hier aufgewachsen und heute zurückgekommen sind, um zu helfen. Sie schauen mit Bauchschmerzen auf den nächsten Tag. Bei der Stichwahl könnten sie nicht mehr wählen, aber heute helfen ‒ das geht!

„In den jüngeren Jahrgängen bricht das auf“

Ich unterhalte mich dann mit einer Schülerin, die zurzeit zur Oberstufe geht. In der Schule sei die Stimmung unter den Älteren schon eher gegen die AfD, aber gerade in den jüngeren Jahrgängen breche das auf. Die würden das sicher ihren Eltern nachplappern. Aus ihren Berichten kann man auch heraushören, dass die sonst so pflichtbewussten, verbeamteten Lehrer:innen zaghaften Ungehorsam aufblitzen lassen: Neulich habe sie rechte Schmierereien von der Schulbank kratzen wollen, als sie eine Lehrerin dabei erwischte. Als sie sah, was sie da wegkratzte, lief sie einfach, mir nichts, dir nichts weiter. Und auch ein Lehrer berichtete, wie er wegschauen würde, wenn Schüler:innen in der Schule Flugblätter gegen die AfD auslegten.

Der ganze Kornmarkt war gefüllt mit Menschen. Viele schauten sich um, unterhielten sich ‒ ein ganz „normales“ Bürgerfest eben.

Es sind viele Stimmen. Es ist ein buntes Nordhausen, verteilt über alle Generationen, Geschlechter, Konfessionen und Schichten. Eine Zivilgesellschaft, die lebt, die so viele Menschen mobilisiert ‒ selbst Kai Buchmann, der in den letzten Wochen nur wenig präsent war, kam noch dazu ‒ und lautstark den Kornmarkt für sich einnimmt. Nordhausen zusammen. Das ist zwar nicht ganz Nordhausen. Aber es ist das Nordhausen, in dem ich aufgewachsen bin. Mein Nordhausen. So mischt sich in den ganzen Pessimismus, mit dem die meisten auf die Stichwahl schauen, doch noch so etwas wie ein kleiner Funken Hoffnung. Vielleicht geht es gut aus. War das heute die schweigende Mehrheit, die endlich laut wurde? Wir werden sehen.

Den Bericht über den letzten Samstag findet ihr hier.

Text und Bilder von Arvid


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